AUF DER FLUCHT

 

 

Ich ging durch den langen, dunklen Gang, an dessen Wände riesige, alte Gemälde hingen. Zwischen den Bildern flackerten Kerzen in ihren Haltern. Sie liessen alles in einem unheimlichen Licht erscheinen. Aber das machte mir keine Angst. Ich hatte im Moment ganz andere Probleme. Man wollte mich umbringen, weil ich meinen Dienst versagt hatte! Nein, ich konnte diese Menschen wirklich nicht verstehen. Da übersah man nur ein einziges Mal eine Maus...

Ja, okay, es war nicht nur eine Maus gewesen. Eigentlich waren es fünf davon. Aber nur ganz Klitzekleine. Noch Babys. Ausgerechnet in der Besteckschublade hatten sie ihr Nest eingerichtet. Diese blöden Viecher! Dabei war die Küche doch Mathildas Heiligtum. Das war natürlich für die Köchin zuviel des Guten gewesen. Mäuse in ihrer Küche! Ich hatte versagt!

 

Nun, es war eben meine Aufgabe, diesen einen Ort im Schloss mäusefrei zu halten. Dafür gab es dann immer einen warmen Platz auf dem Ofen, etwas Milch, liebe Worte und viele Streicheleinheiten für mich. Oh, wie ich mein Leben hier unten genossen hatte! Mir war es bei Mathilda jedenfalls viel besser ergangen, als dem armen Hofhund an der Kette, oder der Katze in der Vorratskammer, die nie nach draussen durfte.

Doch damit war es nun wohl vorbei. Mathilda hatte laut gekreischt, als sie die Mäusefamilie gesehen hatte. Die gute Frau war heute sowieso schon die ganze Zeit total mit den Nerven am Ende gewesen. Eigentlich schon seit Tagen. Sie arbeitete wie besessen und kochte und backte soviel, dass man glauben könnte, sie müsste den ganzen Hofstaat ernähren.

Ich hatte immer gedacht Mathilda sei meine Freundin und trotzdem hat sie heute ihre beiden Küchenburschen mit den Worten: „Tötet das Mäusepack und dieses unfähige Biest gleich noch dazu!“, auf mich gehetzt. Wie konnte sie nur? Ich hatte doch in meinem ganzen langen Leben hier nur ein einziges Mal versagt?

Ja, ich war wirklich furchtbar enttäuscht von ihr und ich hatte auch grosse Angst, denn die Küchenburschen waren keine zimperlichen Kerle. Viel zu oft schon hatten mich die beiden nur so zu ihrem Spass gequält. Sie waren böse und gemein. Und genau diese beiden waren jetzt hinter mir her.

 

Mit lautem Gebrüll hatten sie mich in diesen Gang hier gejagt. Ich hatte sie nur kurz mal abgehängt, aber jetzt schrie Xaver schon wieder: „Hey, da vorne ist das Biest! Los, mir nach!“ Und schon waren mir die beiden jungen Burschen wieder dicht auf den Fersen. Sie hatten Spaten in der Hand und mir war klar, dass sie mich damit erschlagen würden, falls sie mich erwischten.

Ich raste auf die offene Tür am Ende des Ganges zu. In meinem Alter ist man ja nicht mehr der Schnellste, aber ich hatte es schon fast geschafft. Da fiel die Tür plötzlich vor mir zu und ich knallte voll  gegen das harte Holz. 

Alles um mich herum wurde schwarz. Da war nur noch dieser Schmerz! Meine arme Nase, mein armer Kopf! Ich brauchte ein paar Sekunden, um mich wieder zu fangen und klar sehen zu können. Und „Wumms!“, da sauste auch schon ein Schatten auf mich nieder, der mich nur knapp verfehlte. Vor Schreck machte ich einen grossen Sprung in die Luft. Alle Krallen ausgefahren und mit einem lauten Schrei landete ich auf Xavers Brust.

 

Er fluchte und schlug um sich. Der Spaten nutzte ihm jetzt auch nichts mehr. Blutige Streifen zogen sich nun über sein Gesicht und da landete ich auch schon wieder auf dem Boden. Nichts konnte mich in meiner Panik noch  aufhalten, auch der andere Junge nicht, ein halbes Kind noch, der erschrocken zur Seite wich, als ich fauchend und schreiend an ihm vorbeiwetzte.

„Halt den Teufel doch auf; Sepp! Nun mach schon!“ Xavers Worte prallten an Sepp ab. Ich war schon an ihm vorbei, als er sie überhaupt begriff. Da! Da vorne war eine Tür nicht ganz zu. Nur ein kleiner Spalt zwar, aber gross genug für einen so dünnen Kater wie mich.

Ich huschte hindurch und kam in einen, mir neuen Raum. Ausser in der Küche, kannte ich mich hier im Schloss ja eigentlich gar nicht aus. Die meiste Zeit verbrachte ich dort, oder draussen im Garten. Der Raum war kühl und dunkel, aber es gab einen Durchgang, der mich in einen hellerleuchteten Gang brachte. Eine breite Treppe führte nach oben und Stimmengewirr drang an meine feinen Ohren.

 

Noch mehr wütende Menschen?

Aber ich hatte keine andere Wahl. Die Jungen holten auf und Xaver klang jetzt mehr als nur wütend. Mit grossen Sätzen erreichte ich das Ende der Treppe, dann ging’s durch einen weiteren Gang. Weiche Teppiche unter meinen Pfoten, noch mehr Bilder an den Wänden und viele kleine Statuen dienten der Zierde des Ganges. So etwas hatte ich noch nie gesehen!

 

Plötzlich öffnete sich neben mir eine Tür und zwei grosse Männer traten hindurch. Sie sahen mir überrascht hinterher, als ich einen weiten Bogen um sie machte und mich in den warmen, hellen Saal am Ende des Ganges flüchtete. Ein besonderer Duft und viele unbekannte Geräusche liessen mich überrascht stehen bleiben. Dann hörte ich die Männer hinter mir etwas rufen und auch die bösen Jungs kamen immer näher. „Jetzt haben wir dich gleich, du Mistvieh!“, rief Xaver siegessicher.

 

Ich musste sofort weg hier! Aber wohin? Vor mir standen jede Menge festlich gekleidete Menschen und da war auch ein Baum. Ein riesiger Baum mit roten Kugeln und Bändern dran. Das war meine Rettung! Ja, da würde mir niemand hinfolgen können. In Sekunden war ich da und kletterte schon am Stamm empor, während alles um mich herum durcheinander schrie. Der Baum schwankte leicht, als ich seine Spitze erreichte. Hier klammerte ich mich ängstlich fest und blickte mich um. Die Küchenburschen waren nicht in den Saal gekommen. Sie standen einfach nur da und starrten mich an. Auch all die anderen Menschen schauten zu mir hoch. Sie schienen ärgerlich und schimpften über mich.

 

Doch da erklang eine zarte Kinderstimme: „Oh, liebste Mutter, seht nur! Das arme, kleine Kätzchen traut sich nicht mehr herunter. Ach, wie es zittert und wie süss es ist. Ach, bitte, Frau Mutter, darf ich es behalten?“ Es wurde plötzlich ganz still im Saal. Niemand regte sich  und keiner wollte mich mehr umbringen. Die Stille war fast unheimlich.

 

Und dann sprach ein Mann ganz gerührt: „Sie hat geredet! Unser kleines Mädchen hat endlich wieder gesprochen! Oh, lieber Gott, du hast ein Wunder geschehen lassen! Wir danken Dir! Diener, holt das arme Tier da herunter und lasst es ihm gut ergehen!“

Obwohl ich nie richtig verstanden habe, was da eigentlich wirklich passiert war, so begriff ich doch, dass der Heilige Abend ein ganz besonderer Abend sein musste. Ein Abend, an dem man keine faulen, alten Katzen tötete, sondern ihnen schmeichelte, sie liebkoste und ihnen gutes Futter hinstellte.

 

 

ENDE

 

 

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Riesenbaby im Geisterwald